Zwei Männer tragen eine Ottobock Exoskelett in einer Fertigungshalle und besprechen sich.

UX und Exoskelette - Ein Experteninterview

Jan Groenefeld Lead UX Designer

03.12.2020 • 6 Minuten Lesezeit

Im ersten Teil unseres Artikels zu den Paexo Exoskeletten erzählt unser Solution Manager Industry Jan Groenefeld von seinem Besuch bei Ottobock und seinen Erkenntnissen zur „Human Mobility“. Artikel verpasst? Dann hier entlang!

Warum interessieren wir uns — als Digitalagentur mit Fokus auf User Experience — überhaupt für solche Themen?
Die Antwort ist einfach: Innovationen und Neugierde sind Teil unserer DNA. Zudem versteht sich Ergosign als aktiver Begleiter in der digitalen Transformation. Um unsere Kunden unterschiedlichster Branchen zielführend beraten zu können, ist der Blick über den Tellerrand essentiell. Auch wenn Technologien auf den ersten Blick wenig mit klassischen User Interfaces zu tun haben.

So auch bei den Exoskeletten von Ottobock.

Ein Schlüsselmoment war die Erkenntnis, dass Ergosign und Ottobock eine gemeinsame Mission eint: Die mensch-zentrierte Gestaltung durch verantwortungsvollen und nachhaltigen Einsatz heutiger und zukünftiger Technologien. Für eine Welt, in der die Technik den Menschen aktiv unterstützt, statt ihn zu überfordern.

Wir haben das erkenntnisreiche Interview von Jan Groenefeld mit Samuel Reimer (Business Development bei Ottobock) für euch frei zusammengefasst:

Exo-was? Aktiv, Passiv, Smart.

Jan: „Der Selbsttest bei euch in der Experience World war beeindruckend. Unter meinen Kollegen herrschte die einhellige Meinung "Das will ich auch ausprobieren!".“

Samuel: „Ja, Exoskelette haben durchaus einen beeindruckenden „Coolness-Faktor“, wenn man so möchte. Schon im Studium waren viele Kommilitonen an der Thematik Mensch-Maschinen-Schnittstelle interessiert und daran, wie man den Menschen zum Superhelden entwickeln kann.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch nicht unbedingt in der Fertigung hochkomplexer und technisch aufwendiger Cyborgs, die uns übermenschliche Kräfte verleihen. Den großen Mehrwert bieten bereits heute körpergetragene Assistenzsysteme, die die körperliche Beanspruchung bei Arbeitsabläufen in Fertigung, Montage, Logistik und vielen weiteren hochbelastenden Berufen deutlich reduzieren.

Diese Art der Verbindung von Mensch und Technik kann den Menschen helfen. Und sollte es!

Stichwort Ergonomie — dort, wo die Automatisierung der Arbeitsplätze an ihre Grenzen stößt, stellen Exoskelette eine entscheidende Lösung für viele Menschen dar.“

Jan: „Bevor wir tiefer einsteigen - erklärst Du uns bitte kurz, was fachlich dahinter steckt?“

Samuel: „Die Arbeitskontexte, beispielsweise der Fertigung, Montage oder Logistik, sind heute extrem dynamisch und schnelllebig. Stationäre Roboter und vollautomatische Montagesysteme, die mit großem Implementierungsaufwand und hohen Kosten einhergehen, sind daher oft nicht wirtschaftlich und müssten ständig umgerüstet werden.
Exoskelette dagegen sind höchst flexibel. Sie sind im Grunde Orthesen, die direkt am Körper getragen werden und den Menschen bzw. bestimmte Extremitäten situativ unterstützen.“

Jan: „Bei Ottobock nennt ihr diese Systeme auch Wearable Human Bionics, richtig?“

Samuel: „Ja, das stimmt. Bionics steht dabei für „biologically inspired engineering“. In unseren Produkten stecken über 100 Jahre Biomechanik-Expertise, die wir uns auch bei der Exoskelett-Entwicklung zunutze machen. Unsere Entwickler wissen sehr gut, welche Kräfte und Unterstützungsmaßnahmen an welchen Körperregionen zielführend sind und auch, wie solche Systeme idealerweise am Körper getragen werden sollten. Die Technik selbst ist oft simpel. Doch die spezifische Umsetzung für unterschiedliche Körperformen, -größen und -gewichte sowie die Justierung optimaler Unterstützungsgrade ist hochkomplex.“

Jan: „Bei meiner Recherche zu Exoskeletten bin ich auch auf zwei verschiedene Typen gestoßen – aktive und passive.“

Samuel: „Die Forschung unterteilt Exoskelette schon länger in diese zwei Kategorien. Motorisch angetriebene „aktive Systeme“ unterstützen nicht nur — sie können den Träger physisch stärken. Limitiert sind diese Systeme durch den aktuellen Stand der Technik. Denn auch hier gilt es, die Exoskelette so kompakt und leicht wie möglich sowie mit ausreichender Unterstützung herzustellen, ohne, dass der Träger sich in alltäglichen Bewegungen eingeschränkt fühlt.“

Jan: „Klar – die zusätzliche Last entsteht durch die notwendigen Akkus, Elektronik und Stellmotoren. Außerdem muss die Sensorik in Echtzeit reagieren …“

Samuel: „Völlig richtig – und das ist genau der Grund, warum wir derzeit noch auf sogenannte passive Antriebstechnik setzen. Die Unterstützung entsteht durch Feder- und Seilzugelemente, die situativ Energie speichern. Bei Tätigkeiten wird die Kraft dann gezielt dort zurückgegeben, wo sie am dringendsten gebraucht wird.

Auch wenn wir intern bereits sehr viel Know-how in diesem Bereich haben — man schaue sich nur das hoch-innovative, aktive C-Leg von Ottobock an — gehen wir im Vergleich zu manch einem Mitbewerber einen eher „konservativeren“ Weg. Dafür orientieren wir uns jedoch an den tatsächlichen Kundenbedürfnissen. Und diese sind, neben dem Schutz des Körpers, die maximale Unterstützung bei möglichst geringem Eigengewicht, keine Bewegungseinschränkung, unaufdringliches Design und nicht zuletzt die einfache Handhabung.“

Mann trägt das Paexo Back von Ottobock in einer Fertigungshalle.
Das Paexo Back von Ottobock. Bild: Ottobock

Jan: „Das klingt nachvollziehbar. Was mich irritiert, ist die fehlende Vernetzung. Smarte Fabriken leben vom permanenten Datenaustausch der Akteure untereinander. Eure Exoskelette scheinen hier nicht sehr kommunikativ?“

Unsere Paexos werden smart. Stichwort hier ist die aktive Kommunikation im IoT-Umfeld.

Samuel: „Digitalisierung nicht zum Selbstzweck! Unsere Paexo Exoskelette kommunizieren derzeit noch auf dem klassischem Wege, nämlich durch den Menschen . Durch unseren sehr engen Kundenkontakt und regelmäßigen Austausch mit Endanwendern werden Nutzungsbedürfnisse für uns transparent und greifbar. Unsere Ressourcen und das Know-How in der Forschung und Entwicklung richten wir dann passgenau auf diese Erkenntnisse aus.
Die Grundfunktionsweise bleibt aus meiner Sicht in absehbarer Zeit noch „passiv“. Mittels Digitalisierung werden wir jedoch in naher Zukunft „aktiv“.“

Jan: „Das wollte ich hören.“ (lacht)

Samuel: „Ein Beispiel: Durch zusätzliche Sensorik wären wir in der Lage, zu quantifizieren, wie belastend Arbeitsplätze sind und zu welcher Verbesserung Exoskelette führen. Eine essentielle Information für den Return on Invest. Ein abschließender Satz dazu, der unsere Philosophie aus meiner Sicht gut zusammenfasst:

„If you cannot measure it, you cannot manage it!“

Jan: „Die sensorisch erfassten Daten sind sicherlich ein wichtiger Schlüssel für die Weiterentwicklung der Paexos. Die aktive Kommunikation mit der IoT-Welt eröffnet auch eine ganz neue Dimension an Produktideen und Geschäftsmodellen, richtig?“

Samuel: „Absolut: Digital Twin und Digital Service, Exoskeleton Fleet Service Hub, Exoskeleton Data Hubs for Third Parties, Predictive Maintenance, Pay-per-Use-Abrechnungsmodelle und vieles mehr. Die Möglichkeiten sind enorm.“

Nutzerakzeptanz – Der Mensch im Mittelpunkt

Jan: „Bleiben wir beim Thema Nutzerakzeptanz. Was unternehmt ihr bisher, damit das System intuitiv ist? Damit der Benutzer Spaß hat und Vertrauen in eure Produkte findet?“

Samuel: „Die kurze Antwort ist: Wir fragen uns, was der Kunde braucht bzw. brauchen könnte. Unsere Entwickler sind dabei wie erwähnt im regelmäßigen Austausch mit unseren Industriepartnern und testen erste Funktionsmuster dann gleich vor Ort. Die nahe und stete Arbeit an und mit den Anwendenden in einer mehrmonatigen Testphase bringt uns wertvolles Feedback. Die Erkenntnisse werden dann gemeinsam mit allen Stakeholdern verdichtet und iterativ eingearbeitet. Das kommt dir sicher bekannt vor …“

Egal, ob in der Industrie oder im Privat- und Berufsleben: Erfolgreiche Produkte verfolgen Ziele. Sie lösen Probleme, kreieren Mehrwert, wecken Emotionen. Um dies zu erreichen, verfolgen alle Produktionsschritte eine zielgerichtete Strategie.

So auch in unseren Projekten. Neugierig? Unsere Strategy-Seite bietet einen kompakten Überblick über unsere Services. Hier erfahren Sie mehr!

Jan: „In der Tat entspricht euer Ansatz zu großen Teilen dem Usability-Engineering-Prozess nach ISO 9241 und auch agilen Vorgehensmodellen. Das ist auf jeden Fall der richtige Weg. Was noch?“

Samuel: „Wie bereits erwähnt, spielen physische Faktoren wie Gewicht und Bewegungsfreiraum eine entscheidende Rolle für die Träger. Niemand wäre bereit, ein Assistenzsystem anzuziehen, das ihn in seiner sonstigen natürlichen Bewegung zu stark einschränkt. Das Gleiche gilt für Druck- oder Schürfstellen durch zu hohes Gewicht.“

Jan: „Beide Aspekte sind beim Paexo Shoulder aus meiner Sicht wirklich gut gelöst und der Unterstützungseffekt ist bemerkenswert. Auch das Paexo Back ist ein tolles Assistenzsystem. Gleichzeitig wirkt es deutlich massiver.

Ablehnung oder Begeisterung entstehen aus unserer Erfahrung häufig bereits in den allerersten Momenten der Nutzung. An dieser Stelle könnte ein digitaler Einführungsassistent Vorbehalte aktiv abbauen. Schließlich hat nicht jeder einen „Erklär-Sam“ zur Seite stehen.“

Samuel: „Vergleichbar mit Onboarding-Prozessen moderner Consumer-Produkte per App? Das klingt sehr spannend. Wir nutzen natürlich bereits umfangreiche digitale Schulungsmöglichkeiten. Aber wir sind natürlich auch stets bemüht, diesen Prozess weiter zu perfektionieren.Neueste Sensorik könnte dabei unterstützen, die perfekte Passform für den Anwender zu finden. Eine Memory Funktion, wie man sie aus dem Auto kennt, könnte per Knopfdruck bei der Optimierung des Systems helfen. Zudem könnte Ottobock die allerersten Kontaktpunkte mit seinen Produkten besser begleiten und auch aus dem unmittelbaren Feedback-Kanal lernen.“

Und Arbeitsschützer fragen sich zu Recht: Was macht das mit dem Körper?

Jan: „Akzeptanz wird auch durch Aufklärungsarbeit erzeugt. Hier tut Ottobock bereits einiges.“

Samuel: „Absolut. Wir holen essenzielle Stakeholder wie Arbeitsschützer, Ergonomen, Regulatoren, Wissenschaftler, Mediziner und natürlich den Kunden aktiv ab. Schließlich ist es eine neue Technologie.

Im Zuge der Öffentlichkeitsarbeit haben wir außerdem mehrere virtuelle Messen ins Leben gerufen – ExoDay und ExoMeet – mit Vertretern aus Arbeitsschutz und Industrieunternehmen sowie Endanwendern. Zusätzlich investieren wir viel Energie in Effektivitäts-, Simulations- und Langzeitstudien, um Erfolge zu dokumentieren und zukünftig als Argumentationshilfe zu verwenden.

Aus meiner Sicht bleibt die subjektive Akzeptanz jedoch das A und O. Man kann alles mit Studien belegen. Wenn der Mitarbeiter es nicht tragen will, gehen dem Manager oder Werksleiter schnell die Argumente aus.“

Zukunft & Fazit

Jan: „Wir biegen langsam auf die Zielgerade unseres Interviews ein. Was würdest du den Lesern zusammenfassend gerne mit auf den Weg geben?“

Samuel: „Der Schlüssel ist der Mensch. Ich denke, es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis Maschinen uns Menschen in ihrer Intelligenz, Vielseitigkeit und ihrem Reaktionsvermögen vollumfänglich ersetzen können. Und solange das der Fall ist, wird die Industrie mit Automatisierungslösungen immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Der Faktor Mensch und die Frage, wie Technologie den Menschen unterstützen – nicht ersetzen – kann, müssen wieder ins Zentrum der Diskussionen rücken. Diesen Weg werden wir natürlich weiter gehen.

Darüber hinaus ist die Vernetzung wichtig, um als aktives Mitglied am Digitalisierungs-Kosmos teilnehmen zu können. Mechanisch sind unsere Paexos bereits State of the Art. Ich bin jedoch sicher: Aktiv-digitale Paexo Exoskelette sind ein wichtiger Treiber, der das ganze Thema nochmal deutlich beschleunigen wird.

Daten und Visualisierungen, die vermitteln, was das Exoskelett gerade tut, sind ein wichtiges Puzzlestück für die Paexo-Vision. Unser nächster Schritt wird sein, die Kräfte und die Belastung an den Arbeitsplätzen zu visualisieren. Hierzu benötigen wir die eingangs thematisierte Sensorik.“

Jan: „Sicher kennst du den Spruch: Technologie ist der Spiegel der Gesellschaft? Hast du einen ethischen Leitfaden, dem du folgst?“

Samuel: „Mein Credo ist: Technologie und Digitalisierung niemals zum Selbstzweck. Viel wichtiger ist das Bewusstsein dafür, welchen nachhaltigen Mehrwert wir für den Nutzer, aber auch für den Arbeitsschützer und für den Manager bewirken können.

Wir haben in der kurzen Zeit viel erreicht. Auch die Community steht voll und ganz hinter unseren Ergonomielösungen. Doch das eine oder andere To-do bleibt natürlich noch . Es soll aber ja auch nicht langweilig werden. Auf dieser ersten Welle einer technischen Revolution mitreiten zu dürfen ist toll. Das macht unfassbar viel Spaß.“

Jan: „Ein schöner Schlusssatz. Samuel - ich bedanke mich für ein nettes Gespräch und spannende Einblicke.“

Paexos in Action

Wer mehr über Ottobock und die Exoskelette erfahren möchte, dem empfiehlt Samuel die Videos auf dem Youtube-Kanal von Ottobock:


Durch Abspielen des Videos werden personenbezogene Daten an die Betreiber des Videoportals (Youtube oder Vimeo) übertragen. Weitere Infos dazu gibt es in unserer Datenschutzerklärung.

Zu Dr. Samuel Reimer

Dr. Samuel Reimer ist bei Ottobock verantwortlich für das Business Development des Paexo Portfolios. Nach seinem Studium der Medizintechnik in England und Nordamerika promovierte er zu körpernahen Assistenzsystemen und Exoskeletten an der Technischen Universität München. Danach wechselte er zur Strategieberatung, Boston Consulting Group, bevor es ihn zu Ottobock zog. Mehr zu ihm auf LinkedIn. Detaillierte Informationen zu Paexo bietet die Ottobock-Produktseite.